Lyrik auf dem Teller - zum Weltpoesietag

„Das ist ein Gedicht“ – mit dieser Redewendung und einem zufriedenen Seufzer adelt meine Mutter kulinarische Geschmackserfahrungen der besonderen Art. Sie drückt damit aus, dass ihr etwas außergewöhnlich gut mundet. Woher kommt die sprachliche Gleichsetzung von Genuss und Poesie, die sich hinter dieser Redewendung verbirgt?

Genuss und Poesie

Beide Metiers schaffen es mit ihren ganz eigenen Mitteln, den Leser beziehungswiese Esser zum Innehalten zu bringen. Sie kreieren inmitten des Alltags Momente spezieller Aufmerksamkeit und entrücken uns für einen Augenblick dem Lauf der Zeit. Das setzt natürlich gewisse handwerkliche Fähigkeiten voraus. Eine Köchin, die nicht weiß, welche Zutaten miteinander harmonieren oder wie man würzt, wird nicht in der Lage sein, auf diesen Grundlagen Neues zu kreieren. Auch die Poesie hat Regeln wie Versmaß und Strophenbau, die ein Dichter kennen muss, will er Neues schaffen. So wie eine gute Köchin aus der Fülle verschiedener Zutaten bestimmte Geschmacks-Kombinationen auswählt, so destilliert der Dichter aus dem Meer der Worte eine sprachliche Essenz. Damit schaffen Kulinarik und Lyrik, jede auf ihre ganz eigene Art und Weise, unmittelbare Erfahrungen, die ohne Umweg über den Intellekt emotionale Reaktionen beim Esser oder Leser auslösen. Im besten Fall ist ein Gericht dann ein Gedicht.

Lob der Kartoffel

Bei diesen offensichtlichen Parallelen zwischen Dichtung und Küche ist es kein Wunder, dass sich Poeten und Poetinnen immer wieder mit dem Thema Essen beschäftigen. Eva Gesine Baur hat in ihrer Anthologie Essen und Trinken mit Poesie Gedichte aus dem deutschen Sprachraum zusammen getragen. Der Bogen reicht von poetischen Werken des 18. Jahrhunderts bis hin zu den zeitgenössischen satirischen Gedichten von Robert Gernhardt. Die Palette der Haltungen zum Thema ist so vielfältig wie die Autoren, die versammelt sind. Sie zeigt am Thema Essen, wie sehr sich die Funktion von Poetik im Kontext von Gesellschaft und Kultur in den letzten 300 Jahren verändert hat. Matthias Claudius‘ lyrisches Lob der Kartoffel, Gedichte über Zwiebeln oder Rüben sind mehr oder weniger verdichtete Beschreibungen eines Nahrungsmittels und verweisen nur selten über sich hinaus. Aber bereits Goethe zweifelte das poetische Potential von Nahrungsmitteln an: „Über Rosen kann man dichten, in Äpfel muss man beißen.“

Metaphorische Dimension

Im 20sten Jahrhundert ändert sich der Umgang von Dichtern und Dichterinnen mit dem Thema Essen grundlegend, denn nun verweist die Lyrik in eine zweite, metaphorische Dimension. Jenen Moment des Innenhaltens thematisiert zum Beispiel das Gedicht von Rose Ausländer (1901-1988)

Einladung

Auf dem Tisch

Äpfel und Wein

Blumen zerbrechliche Farben

Du bist eingeladen

Ich wohne im Haus

Nummer Null

Den Duft malte Monet

Äpfel gereift bei Cezanne

den Wein brachte die Flaschenpost

Ich wiederhole

du bist herzlich

eingeladen

(Rose Ausländer, Einladung. Aus: dies., Im Aschenregen die Spur deines Namens. Gedichte und Prosa 1976. ©S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1984, Zitat mit freundlicher Genehmigung des Verlags)
 

Kraft der Poesie

Ausländers Gedicht ist eine Hommage an die Kraft der Phantasie; die Dichterin spricht dem geistigen Nährwert von Kunst die gleiche Stellung zu wie der Aufnahme von realer Nahrung. Und so kann man ihr Gedicht als wörtliche Einladung an uns Leser verstehen, sich an den üppig gedeckten Tisch der Poesie zu setzen, die dort angebotenen Speisen zu kosten, inne zu halten und dadurch im immer gleichen Lauf des Alltäglichen das Besondere, das Poetische zu finden.

Die Einladung zum Innehalten bietet auch ein Poesie-Projekt an, das mit Rose Ausländers Haltung viel mehr gemeinsam hat, als es auf den ersten Blick erscheint.

Literarisches Feinkostpapier

Seit 10 Jahren druckt die Tiroler Supermarkt-Kette MPEIS literarisches Feinkostpapier. Seit dieser Zeit tragen die Kunden des Familienunternehmens Wurst und Käse nach Hause, eingewickelt in Poesie. Ich selbst kaufte vor ein paar Jahren während eines Skiurlaubs in einer der auch architektonisch außergewöhnlichen Filialen ein und erlebte zu Hause beim Auspacken meines Schinkens eben jenen Moment des überraschten Verweilens, als ich anstatt des obligatorischen Schriftzugs „Guten Appetit“ ein Gedicht auf dem Einwickelpapier fand.

©MPREIS (mit freundlicher Genehmigung)

Subjektive Auswahl

Urheberin des Konzeptes ist die Wiener Graphikerin Michaela Schweeger. Sie bekam von der Firma den Auftrag, das konventionelle Design des Einwickelpapiers durch einen neuen moderneren Look zu ersetzen. Ihre eigene Vorliebe für Poesie brachte sie auf die Idee, statt Käse oder Wurstemblemen Liebesgedichte aufzudrucken, denn „das betrifft alle und jeden und jeder kennt diese Gefühle.“ Dieses bislang einzigartige Konzept fand bei den Verantwortlichen von MPEIS von Anfang an offene Ohren. Dass Unternehmensführung und Designerin damit richtig lagen, zeigt die Tatsache, dass das literarische Feinkost-Papier mittlerweile in die 20ste Auflage geht und von den Kunden als auch von den Autoren durchweg positiv aufgenommen wird.

In ihrer Auswahl, die rein subjektiv ist, achtet Schweeger auf eine breite Vielfalt, wie sie sagt „ aus Respekt vor den vielen anderssprachigen Kulturkreisen, die in Österreich arbeiten oder als Touristen das Land besuchen“. Von Roma–Gedichten über Pusterthaler Mundart bis hin zu türkischen Liebesgedichten mit Übersetzung, zeitgenössischen, modernen Autoren finden die unterschiedlichsten Ausdrucksweisen von Poesie Platz auf dem Stückchen weißen Papier.

©MPREIS (mit freundlicher Genehmigung)

Lyrische Impulsgeberin

Schweeger sieht sich als lyrische Impulsgeberin, denn manchmal sind es nur Auszüge aus Gedichten, die aufgedruckt werden. Sie sollen den Leser anregen, sich selbst auf eine poetische Reise zu begeben. Zweimal pro Jahr sucht sie je sechs Gedichte und Text-(Teile) aus, jedes wird in einer Auflage von 250 000 Papier-Exemplaren gedruckt. Mit dem literarischen Feinkostpapier will sie „Kultur in den Alltag“ bringen, quasi als Geschenk an den Kunden, und eben jenen Moment des Innehaltens generieren, der im modernen Alltag so selten geworden ist.

In diesem Sinn meine Anregung zum Welt-Poesie-Tag. Lies mal wieder ein Gedicht oder koche ein Gericht – und genieße das eine oder das andere oder beides. Halte inne und biete der Hektik des Alltags für einige Momente die Stirn.Du bist herzlich eingeladen!

3 Kommentare
  1. Ein Gedicht- so sag ich auch gelegentlich wenn es mir besonders gemundet hat. Und denke grade in letzter Zeit öfter an Gedichte aus Worten, von Ringelnatz, Goethe oder Mascha Kaleko.

  2. Kundin in Südtirol: Hin und wieder gönne ich mir die 30 km zur nächsten M-Preis-Filiale (weil leider in meiner näheren Umgebung am Ritten noch keine ist) und genieße das vom hiesigen, weitgehend standardisierten Supermarkt-Angebot abweichende bei M-Preis. Dann den Neuburger oder die Salami aus einem Heine-Gedicht auszupacken, ist ein Vergnügen der besonderen Art! DANKE für Eure guten Ideen, die im besten Sinn Marketing-Mehrwert sind! Schön, dass es auch südlich des Brenners M-Preis gibt!

  3. Die neue Blogseite ist absolut super!Ich bin immer wieder erstaunt, was Du wieder aufgespürt hast! Sehr interessant, toll geschrieben, die Idee von MPEIS sehr nachahmenswert! Das würde den Alltag schöner, bewußter und sicher auch humorvoller machen… Ich freu mich auf das nächste Mal Reinschaun!
    Herzliche Grüße!

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